Keine EU-Dienstleistungsrichtlinie ohne soziale Ausgewogenheit!
07.12.2005
Der DGB-Bundesvorstand hat am Dienstag in Berlin folgende Resolution zur EU-Dienstleistungsrichtlinie beschlossen:
Keine EU-Dienstleistungsrichtlinie ohne soziale Ausgewogenheit!
Die Abstimmung im Binnenmarktausschuss des Europäischen Parlaments (EP) am 22./23.11.2005 gibt Anlass zur Sorge, dass eine soziale Gestaltung der EU-Dienstleistungsrichtlinie scheitert. Der DGB-Bundesvorstand fordert alle Europa-Parlamentarier zu einem klaren Bekenntnis für den Schutz der Arbeitnehmerinteressen bei der Durchsetzung des Binnenmarktes auf. Sollte die Haltung des Binnenmarktausschusses vor der 1. Lesung im Plenum des EP nicht wesentliche Änderungen erfahren, so ist der Richtlinienvorschlag als Ganzes abzulehnen.
Auch die Bundesregierung muss sich für die genannten Abänderungen einsetzen und bei einem Scheitern der Verhandlungen im Rat zu diesen Fragen die Richtlinie ablehnen. Dieser Auftrag leitet sich aus dem Koalitionsvertrag ab.
Harmonisierung statt Herkunftslandprinzip:
Der DGB befürwortet einen Dienstleistungsbinnenmarkt, der systematisch auf der Harmonisierung der Rahmenbedingungen und auf transparenten, gemeinsamen Regelungen aufbaut. Das Herkunftslandprinzip ist hingegen eine Bankrotterklärung für eine Politik der europäischen Integration.
Eine knappe Mehrheit im Binnenmarktausschuss hat trotz massiver Kritik das Herkunftslandprinzip, wie es im ursprünglichen Kommissionsvorschlag vorgesehen ist, fast unverändert bestätigt. Der DGB wendet sich strikt und ohne Wenn und Aber gegen die Anwendung des Herkunftslandprinzips bei der Erbringung von Dienstleistungen.
Die neu eingefügte Option der Abweichung vom Herkunftslandprinzip in besonderen Fällen des öffentlichen Interesses setzt eine extrem hohe Hürde und gilt nur für strikt begrenzte Sonderfälle. Die Kontrollfähigkeit der Staaten am Ort der Dienstleistungserbringung ist zwar geringfügig verbessert worden. Es bleibt aber die Unwägbarkeit, nach 25 verschiedenen Rechtsordnungen kontrollieren zu müssen, was zu mehr Rechtsunsicherheit und Inländerdiskriminierung führen kann.
Wahrung der sozialen Interessen hinsichtlich des Arbeitsrecht,
der Gewerkschaftsrechte und der sozialen Sicherung:
Kollektive und individuelle Arbeitnehmerrechte müssen unabhängig vom Unternehmenssitz für alle Beschäftigten eines Landes gelten. Arbeits- und sozialrechtliche Fragen dürfen daher in der Dienstleistungsrichtlinie nicht geregelt werden. Der EU-Vertrag sieht hierfür eine eigene Rechtsgrundlage vor, die dem Ziel des sozialen Fortschritts und nicht dem Wettbewerb verpflichtet ist.
Um negative Auswirkungen durch die Dienstleistungsrichtlinie auszuschließen, müssen alle Fragen im Zusammenhang mit der Beziehung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer aus dem Geltungsbereich ausgeschlossen werden. Die vom Binnenmarktausschuss übernommene Formulierung in Artikel 1, wonach die Beeinträchtigung des Arbeits- und Sozialrechts ausgeschlossen sein soll, zeigt die positive politische Absicht, bietet jedoch bei ihrer Anwendung und Auslegung nur eingeschränkten Schutz. Arbeitnehmerrechte, die nicht im Arbeits- und Sozialrecht niedergelegt sind, bleiben dem Herkunftslandprinzip unterworfen. Dies gilt auch für die wichtige Frage der Unterscheidung zwischen Selbständigkeit und Arbeitnehmerstatus.. Eine definitive Klarstellung im Sinne einer Geltung aller Arbeitnehmerrechte am Arbeitsort ist notwendig.
Grenzüberschreitende Leiharbeit muss vom Anwendungsbereich ausgenommen werden:
Leiharbeitsunternehmen und ihre Tätigkeiten sollen nach dem Willen des Binnenmarktausschusses in den Anwendungsbereich der DLRL fallen. Das ist für den DGB nicht akzeptabel. Die Leiharbeit insgesamt sowie die Tätigkeiten von Leiharbeitsagenturen müssen aus der Richtlinie ausgenommen werden. Andernfalls entstehen Abgrenzungsschwierigkeiten zur Entsenderichtlinie und damit Lücken beim Schutz der Rechte von LeiharbeitnehmerInnen, die grenzüberschreitend eingesetzt werden. Missbrauch und Verstöße würden begünstigt.
Die Arbeitsbedingungen und der Schutz der Beschäftigten im Rahmen grenzüberschreitender Leiharbeit müssen darüber hinaus im Sinne des Gleichbehandlungsgebots in einer eigenständigen Richtlinie europäisch geregelt werden.
Entsendung von Arbeitnehmern muss nach dem Arbeitsortprinzip
geregelt werden:
Der DGB begrüßt, dass der Binnenmarktausschuss des Parlaments sich zu dem Beschluss des Sozialausschusses, die Neuregelung der Kontrolle und Überwachung der Entsendung aus der Dienstleistungsrichtlinie zu streichen, nicht gesondert geäußert hat. Dieser Beschluss zur Streichung der Artikel 24 und 25 muss in der Schlussabstimmung im Plenum des Europäischen Parlaments unbedingt bestehen bleiben. Diese Streichung muss auch im Rat durchgesetzt werden, denn der aktuelle Entwurf der britischen Präsidentschaft sieht hier nur eine leichte Abänderung vor. Der Kommissionsvorschlag zu Artikel 24 und 25 mit den besonderen Entsendebestimmungen greift in die nationalen Vorschriften über die Kontrolle und Überwachung der Mindestvorschriften der Entsenderichtlinie ein und verhindert damit wirkungsvolle Überprüfungen der Rechtmäßigkeit der Entsendungen.
Das Arbeitsortprinzip muss bei der Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen gewährleistet werden, dies muss auch für die gewerkschaftliche und betriebliche Interessenvertretung gelten. Die Unterscheidung zwischen abhängig Beschäftigten und Selbständigen obliegt den Mitgliedstaaten, in denen die Dienstleistung erbracht wird.
Die Daseinsvorsorge darf keinem ruinösen Preiswettbewerb unterworfen werden:
Dienstleistungen von allgemeinem und allgemeinem wirtschaftlichen Interesse (DAI/DAWI) sind ein substantieller Bestandteil des europäischen Gesellschafts- und Sozialmodells. Qualitativ hochwertige gemeinwohlorientierte Dienstleistungen müssen gegen einen schrankenlosen Wettbewerb gesichert werden. Der Beschluss des EP-Binnenmarktausschuss ist ungenau und nicht ausreichend. Ungenau, weil die Ausnahme sich manchmal auf den Anwendungsbereich und manchmal lediglich auf das Herkunftslandprinzip bezieht. Unzureichend, weil die Definition der ausgeschlossenen Dienste am Kriterium des vorhandenen Wettbewerbs und nicht an der Gemeinwohlorientierung ausgerichtet ist.
Der DGB kann eine EU-Dienstleistungsrichtlinie nur mittragen, wenn der gesamte Bereich der Daseinsvorsorge klar aus dem Geltungsbereich der Richtlinie ausgeschlossen wird. Dafür ist eine eigenständige Rahmenrichtlinie nötig, die der Gemeinwohlorientierung und der Qualität dieser Dienste Rechnung trägt. Die Bundesregierung hat stets betont, dass durch die Dienstleistungsrichtlinie die nationale Bildungshoheit nicht unterlaufen werden darf. Wir erwarten von ihr, dass sie zu dieser Position steht und sich dafür einsetzt, dass die Bereiche Bildung und soziale Dienste ausdrücklich vom Anwendungsbereich ausgeschlossen werden, wie dies auch im Fall der Gesundheitsdienste erfolgt ist.
Eine eindeutige Definition einer "Niederlassung" muss Schutz vor Missbrauch gewährleisten:
Ein unpräziser Niederlassungsbegriff führt dazu, über Briefkastenfirmen die Dienstleistungsfreiheit zu missbrauchen und nationale Voraussetzungen für eine Unternehmenstätigkeit zu umgehen. Die Dienstleistungsfreiheit soll allein dem Zweck dienen, vorübergehende Tätigkeiten in einem anderen EU-Land zu erleichtern. Eine dauerhafte Tätigkeit auf dem Markt eines anderen Mitgliedstaates sollte zur Einrichtung einer ordentlichen Niederlassung führen. Die Bezeichnung einer Niederlassung in einem Mitgliedstaat muss davon abhängig gemacht werden, dass dort tatsächlich eine Wirtschaftstätigkeit stattfindet und nicht allein eine Postadresse mit geringfügiger Verwaltungsarbeit dahinter steht.
Die Entscheidung des Binnenmarktausschusses enthält hier eine wesentliche Verbesserung, weil sie die effektive Ausübung der Dienstleistung vorschreibt. Um jeglichen Missbrauch durch einfache Sitzverlagerung auszuschließen, muss jedoch zusätzlich klargestellt werden, dass die Wirtschaftstätigkeit selbst auch im Niederlassungsstaat stattfindet. Bislang schreibt der Richtlinienentwurf auch nicht vor, dass bei dauerhafter Dienstleistungserbringung in einem Empfängerland dort auch eine Niederlassung erfolgen muss.